Warum mich an jenem Morgen niemand beachtete

 

Ich hasse Geschichten die mit Floskeln wie "Eigentlich hätte es ein ganz normaler Tag werden können" oder "Es war ein Morgen wie jeder andere" beginnen. Und doch muss ich sagen, dass der Morgen, an dem unsere Geschichte ihren Lauf nahm zu Beginn absolut nichts besonderes war.
So war ich wie an jedem Tag auf dem Weg zum Bahnhof wo ich den 7:08 nehmen wollte, der - und das möchte ich nicht unerwähnt lassen, wo doch ein jeder glaubt auf die Bahn schimpfen zu müssen- in den allermeisten Fällen pünktlich am Bahnsteig einfuhr.

Wie dem auch sei, ich marschierte an der Hauptstraße entlang, als mich Tristan in seinem Suzuki überholte. Ich winkte ihm, doch er schien mich nicht zu bemerken. Dabei hätte er mich doch im Rückspiegel sehen müssen. Ich dachte mir nichts weiter dabei, schließlich konnte es gut sein, dass Tristans Blickfeld noch immer etwas eingeschränkt war, hatten wir vorgestern doch eine reichlich ausgelassene Party gefeiert und es hätte mich nicht überrascht, wenn Tristan noch an den Nachwirkungen trug.

Am Bahnhof angekommen hatte ich bis zur Einfahrt noch einige Minuten Zeit, also schaute ich mich um und entdeckte Ilse mit Gerd, ihrem Freund auf der anderen Seite der Gleise. Da sich auf dem Bahnsteig jede Menge Leute tummelten, wollte ich nicht laut nach den beiden rufen, deshalb machte ich es wieder: Ich winkte. Und wieder blieb der Erfolg aus. Keiner der beiden beachtete mich. Viel Zeit mich zu wundern blieb mir nicht, denn gerade jetzt fuhr der 7:08 ein.

Fünf Minuten Fahrt in dem abgenutzten Abteil mit den weichgesessenen Sitzen und der Zug hielt in Emhausen. Am Bahnsteig stand Atreos und fixierte die nächste Tür. Ich sprang zum Fenster und tat es ein weiteres Mal: Ich winkte. Als wäre es mittlerweile zum Naturgesetz geworden fiel ich auch ihm nicht auf.

Beunruhigt suchte ich nach einer Erklärung. War ich in einem Paralleluniversum gefangen und konnte durch einen klassischen Riss im Raum-Zeit-Gefüge zumindest passiv am gewohnten Leben auf der Erde teilhaben? Wir erinnern uns alle, was Captain Kirk in diesem Fall getan hatte, doch wo sollte ich jetzt und hier diese Menge an Dilithiumkristallen auftreiben?
Hatte ich meine Tarnkappe noch auf? (Die pflege ich in der Nacht zu tragen, damit mich die Krugschen Nachtlurer nicht entdeckten)

Oder...verdammt. Ja natürlich. Ich hatte ihn in der Dusche liegen lassen. So musste es sein, ich weiß genau, dass ich ihn beim Aufstehen noch hatte und ja...ich hatte ihn beim Duschen abgenommen und an die Seifenschale gehängt. Na super, dann musste mich das alles auch nicht wundern.

Ich stieg an der nächsten Haltestelle aus, nahm den ersten Zug zurück und holte mir meinen Winkarm der noch immer da hing, wo ich ihn vermutete. Eigentlich hätte es mir auffallen müssen, dass mein Hemd nicht an den Schultern spannte wie sonst auch. Aber was war im Nachhinein gesehen an diesem Morgen schon "wie sonst auch".

 
raus hier